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Gesellschaft

Der Mensch spielt fremd.


Und der Herr sprach: „Ein Volk sind sie, eine Sprache haben sie alle und dies ist der Anfang ihres Tuns…“

Von einem Volk, das eine Sprache spricht, sind wir noch weit entfernt. Noch haben wir GRENZEN. Vielmehr: Wir denken in Grenzen, um dann in ihnen zu fühlen und nach ihnen zu handeln. Es gibt geografische, kulturelle und religiöse Grenzen. Wir leben zwar in einer Zeit der grenzenlosen Möglichkeiten von Vielfalt und Anderssein. Doch gleichzeitig erfahren wir eine immer stärker und sich ausweitende Abgrenzung gegenüber dem, was fremd, unbekannt und anders ist. … denn es gibt eben auch diese intellektuellen Grenzen, jene Beziehungs- und persönlichen Grenzen, die uns ab-/sichern wollen, aber in Wahrheit unsere eigene Freiheit und unser Tun begrenzen!

Ode an die Freude: Am 9. Mai 2020 feierten wir den 27. Europatag von 26 EU-Staaten (bis zum 31.1.20 waren es noch 27). Ein Tag der – vermeintlich – offenen Grenzen! Na klar, es gibt eindeutige Unterschiede, wie die einzelnen Staaten und Bundesländer mit anderssprachigen und kulturell anders aufgewachsenen Menschen umgehen. Doch ein weltweit zu beobachtender rechtsextremistischer und antisemitischer Gesinnungsruck ist eine nicht mehr zu verleugnende Realität: Der Mensch wird dem Fremden gegenüber immer fremder bis hin zur Fremdenangst. Xenophobie, auch Fremdenfeindlichkeit genannt, ist laut Wikipedia „eine Einstellung, die Menschen aus einem anderen Kulturareal, aus einem anderen Volk, aus einer anderen Religion oder aus einer anderen Gemeinde aggressiv ablehnt (…). Sie fördert die Ungleichbehandlung und Benachteiligung von Fremden in der Gesellschaft.“: Der (Ausländer-)Mensch ist fremd.

Warum/wodurch entsteht diese Furcht vor dem Fremden? Das einfache Modell der Komfortzone veranschaulicht sehr gut, warum wir das Fremde scheuen und es sogar hassen können:

Sehr verkürzt ausgedrückt, leben wir in der Komfortzone unsere Routinen, die Gewohnheiten, den Alltag, unsere Bequemlichkeiten, das Bekannte… all das, was uns das Gefühl der Sicherheit gibt. Zu sehr in diese Struktur eingebunden, verhindert sie nicht selten unsere Veränderungsbereitschaft und lässt uns das Neue unweigerlich ablehnen. Hier finden sich vor allem unsere persönlichen und Beziehungsgrenzen, die wiederum stark durch unsere kulturellen Konditionierungen und Lebenserfahrungen geprägt sind (Erziehung, Schule, Religion… Traumata). Wagen wir uns jedoch ein Stück aus der Komfortzone hinaus, unsere eigenen Grenzen und die der anderen vorsichtig öffnend, indem wir uns Ziele setzen, Träume haben und Visionen umsetzen wollen, begeben wir uns in das sogenannte Wachstums- oder Niemandsland. Hier dürfen wir wachsen und unsere Größe leben. Hier geschehen magische Dinge: Abenteuer, Neugier, Liebe, Kraft, Wandel, Kreativität, Fortschritt… aber wir müssen uns auch den Aggressionen, der Unsicherheit, den Ängsten, möglicher Krisen, seelischen Schmerzen und eventuellen Krankheiten stellen. Dem Unbekannten und Fremden, das uns ganz plötzlich überfällt und immens herausfordert. Ein tiefer und gleichzeitig sehr lohnender Prozess. Wir brauchen Mut, Durchhaltevermögen und Geduld, um durch diese Lernphase hindurch schließlich in das Neuland der erreichten Ziele, Träume und Visionen zu kommen. Diesen Lernprozess könnten wir mit den/m Fremden gemeinsam machen, indem wir zum Beispiel unser Aufeinandertreffen als Labor des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachten, uns besser kennenlernen und voneinander lernen würden. Die 2. Phase, das Niemandsland, in dem wir nicht wissen, was auf uns zukommt, wo wir für bestimmte Zeit ohne Netz und doppeltem Boden leben müssen – das ist die eigentliche Herausforderung.

In Deutschland haben wir eine noch junge, aber starke Willkommenskultur (Bertelsmann-Umfrage 08/2020). Eine gute Basis für Veränderung. Es geht darum, eine gemeinsame Sprache zu finden und am gleichen Strang zu ziehen. Das bezieht sich auf jeden Menschen und jeden Aktionsbereich. Denn die Veränderung beginnt im Kleinen und im Tun des ersten Schrittes hin zum Neuland. Das heißt, wir brauchen gemeinsame Ziele, Träume und Visionen. Wir gehen von Der Mensch ist fremd hin zum Der Mensch spielt fremd. Wir spielen mit den und dem Fremden. Wir spielen mit dem Spiegel, den uns die Fremden vorhalten. Wir erkennen den/das Fremde/n in uns selbst. Wir nehmen unsere persönlichen Grenzen wahr. Sie wollen uns vermeintlich abgrenzen, aber in Wahrheit grenzen sie aus: Den anderen und somit auch sich selbst! Indem wir durch die 2. Phase des Wachstums gehen, werden wir uns dieser Einstellungen bewusst, und zwar jeder von uns, sowohl wir selbst als auch der Fremde.

Als Metapher für eine mögliche Vision von morgen, möge ein Bild aus der Bibel dienen:

„(…) Ein Volk sind sie, eine Sprache haben sie alle und dies ist der Anfang ihres Tuns – jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, wenn sie es sich zu tun vornehmen! (…)“

Buch Genesis, der Turmbau zu Babel: 11, 1-9

Was denkt Ihr? Endet die Geschichte nach einem guten Anfang wieder in der biblischen Verwirrung oder gelingt der Menschheit mit einem neuen Bewusstsein der notwendige Quantensprung zu einer fortschrittlichen und friedlichen Gesellschaft?!

Cornelia Hargesheimer
Personal– & Business-Coach

Beitragsbild von Ryoji Iwata